Abschied von Atocha. Roman.
Ben Lerner, Rowohlt 2015
Tiefgehende Kunsterfahrung
Der junge Dichter Adam Gordon darf für ein Jahr in Madrid leben. Er hat ein Stipendium bekommen und setzt nun dort sein "Projekt" um, eine mehrstufige und -phasige Struktur, die er recht willkürlich diesem Jahr gegeben hat. Was in welcher Phase genau passiert oder was das Ziel des Projekts sein soll, bleibt weitgehend offen - es hat mit Drogenkonsum zu tun, aber auch mit sozialer Interaktion. Und mit der Wahrnehmung von Kunst, mit ihrer Intention und (möglichen) Bedeutung.
Gordon hält sich, wie übrigens viele Künstler, für einen Scharlatan. Seine Dichtung besteht aus eher zufällig zusammengesetzten Wortübertragungen, absichtlichen Fehlübersetzungen und vergleichbaren Elementen. Weniger ungenau ist er, wenn es um den Umgang mit anderen Menschen geht: Er ist ein äußerst genauer Beobachter, steuert sich vor allem selbst in so gut wie jeder Situation, sogar wenn er unter Strom ist, also ein paar Pillen eingeworfen oder Gras geraucht hat. Mimik und Gesten sind einstudiert und werden dosiert eingesetzt, allerdings nicht immer erfolgreich. Gordon liebt die Unschärfe seiner mangelhaften, über die Zeit aber - leider - besser werdenden Spanischkenntnisse, und den damit einhergehenden, riesigen Interpretationsraum, den er sich und anderen eröffnet. Äußerst amüsant sind die Passagen, in denen er spanischen Freunden zuhört und darüber spekuliert, was sie möglicherweise erzählen; seine Reaktionen demgegenüber sind vorgefertigt und sollen ihn möglichst lässig, entspannt, mal distanziert, mal teilnahmsvoll erscheinen lassen. Interpretation ist das übergreifende Thema des Romans - Interpretation nicht nur bezogen auf den Umgang, sondern auf die Wahrnehmung von Kunst. Die Geschichte beginnt damit, dass Gordon täglich in ein Museum geht und ein Gemälde anstarrt. Er will das Phänomen der "tiefgehenden Kunsterfahrung" untersuchen, das er für ein Gerücht hält, weil er nicht glaubt, dass Kunst eine solche kathartische Wirkung haben kann. Letztlich glaubt Gordon nicht wirklich an Kunst, muss aber - nicht immer erstaunt - feststellen, dass so gut wie alles, was er als Dichter fabriziert, begeistert zur Kenntnis genommen wird.
Er begegnet zwei Frauen, in die er sich möglicherweise verliebt, deren Nähe er jedenfalls sucht, aber er kann es nicht lassen, ständig zu analysieren und eben zu interpretieren. Kaum nötig, zu erwähnen, dass er oft danebenliegt, aber letztlich spielt das keine große Rolle. Oder doch, weil die Beliebigkeit der Interpretation und das Spiel mit dieser Ebene im Vordergrund der Erzählung steht. Das wird umso deutlicher, als im letzten Drittel des Stipendiatsjahres die Terroranschläge unter anderem auf den Madrider Bahnhof Atocha (2004) stattfinden, woraufhin sich alles - zwischenmenschliche Interaktion, aber auch die Wahrnehmung von Kunst - nur noch auf diese Ereignisse zu beziehen scheint: Der Kontext gibt die Sichtweise vor. Das scheint mir letztlich die Botschaft dieses Romans zu sein, aber auch hier wäre ich nicht sicher. Ben Lerner beantwortet seine eigenen Fragen nicht.
"Abschied von Atocha" liest sich einfach wunderbar leicht, obwohl Sprache und Satzbau zuweilen ziemlich kompliziert sind, aber man erfasst die Bedeutung und die Melodie der Situationen auch, ohne jedes Fremdwort zu verstehen und dem Namedropping in aller Tiefe folgen zu können. Das Buch wurde als "Schelmenroman" bezeichnet, was möglicherweise stimmt, aber in erster Linie kommt es mir wie die Erzählung von einem Typen vor, der sich einfach jede Menge Gedanken macht - Gedanken, die man sich durchaus machen sollte. Nicht alles davon ist zielführend, manches sogar kontraproduktiv, aber der Weg, auf dem man Adam Gordon begleitet, ist ein Heidenspaß.
Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:
NACHTTANKSTELLE.
ROMAN.
rororo, 28. August 2015
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